Kapitel 4.0 - Crewlife - Mein Leben über den Wolken: Die Vorgeschichte eines Neuanfangs
Mein Leben über den Wolken – die
Vorgeschichte
Es gibt Momente, die eine Richtung vorgeben, lange bevor wir sie erkennen. Für mich war es die Fliegerei – nicht als bloßer Beruf, sondern als Sprache, in der ich lernte, die Welt zu verstehen. Heute schreibe ich dieses Kapitel, um zu erzählen, wie ich in diese neue Welt fand. Nicht über Flugzeuge und Prozeduren, sondern über Umwege, Verluste und den Mut, noch einmal zu beginnen.
Vor dem Umbruch
Bevor ich begriff, was für mich wirklich zählt, war ich selbstständig. Ich führte ein Unternehmen, das für einen großen Technikkonzern arbeitete. Ich war schnell, ehrgeizig, ständig unterwegs. Arbeit füllte jeden Tag. Erfolg war mein Maßstab.
Mit der Zeit verlor ich den Blick für das, was mir einmal wichtig war. Nächte wurden zu Bühnen, auf denen ich Geld verteilte wie Konfetti. Hauptsache gesehen werden. Besser sein als die anderen – gemessen an Zahlen, Marken, Adressen. Status wurde mein Kompass. Die richtige Uhr. Die perfekte Kleidung. Eine luxuriöse Wohnung, die glänzte. Zuffenhausen fühlte sich nach Standard an, nicht nach Sehnsucht.
Ich nannte das Fortschritt, doch es war Routine. Kein Staunen mehr. Kein Innehalten. Alles wurde normal, obwohl nichts davon wirklich normal war. Heute schaue ich auf diese Zeit zurück wie auf eine grelle Stadt bei Nacht: viel Licht, wenig Wärme. Ich hatte nicht zu wenig – ich hatte zu wenig Sinn.
Mittwoch
Ein Mittwoch, wie so viele. Ich fuhr ins Büro, eine gute Stunde südlich von München, dort, wo die Berge den See berühren und selbst das Atmen anders klingt. Normalerweise starteten wir den Tag zu dritt mit einem kurzen Morgenmeeting. An diesem Morgen saßen wir nur zu zweit am Tisch. Und genau da begann etwas, das nicht mehr in die alte Routine passte.
Es klopfte. Die Tür ging auf. Vier Polizisten, Ermittler der Kripo, traten ein. Der Raum wurde kleiner, die Luft schwer. Sätze fielen, die ich zwar hörte, aber nicht verstand. Dann traf mich die Nachricht, die mich in Sekunden in einen anderen Menschen verwandelte: Mein Geschäftspartner und Freund hatte sich das Leben genommen.
Ich glaube, in diesem Augenblick erlebte ich meine erste Panikattacke. Mein Hals schnürte sich zu. Atmen war plötzlich Arbeit. Meine Gliedmaßen kribbelten, wurden taub. Ich war froh zu sitzen, sonst wäre ich umgefallen. Mit dieser Nachricht zog es mir den Boden unter den Füßen weg – und ich verstand noch nicht, wie tief der Fall werden würde.
Der Absturz
Der Tod meines Partners war nicht nur ein menschlicher Verlust. Er war ein Erdbeben, das jede tragende Wand meines Lebens verschob. Verträge, die in besseren Zeiten Sicherheit versprachen, stellten sich in diesem Moment gegen mich. Es folgte ein zäher, langwieriger Prozess, der mich zwang, Stück für Stück loszulassen.
Ich musste die Firma verkaufen, um Rechnungen zu decken, das Team finanziell auszugleichen, Verpflichtungen zu bedienen. Ich verkaufte Dinge, die ich mal als Meilensteine gefeiert hatte: Besitztümer, die glänzten, aber nicht trugen. Am Ende ging es darum, offene Steuern zu bezahlen und überhaupt handlungsfähig zu bleiben. Es war ein Aufräumen bis auf die Grundmauern – und manchmal noch darunter.
Es gibt Krisen, die dir erklären, wer du bist, indem sie dir alles wegnehmen, was du glaubtest zu sein. Ich verlor nicht nur einen Geschäftspartner und Freund. Ich verlor mein altes Leben.
Was bleibt, wenn alles geht
Ich war geübt darin, wieder aufzustehen – dachte ich. Diesmal stand ich nicht auf, um weiterzulaufen wie zuvor. Ich stand auf, um anders zu laufen. Leiser. Ehrlicher. Ohne die Rüstung aus Statussymbolen, die mir ohnehin nie wirklich gepasst hatte.
In diesem Grau zeichnete sich ein Licht am Horizont ab. Ein Name, zunächst nur ein Gedanke, dann eine Chance: Condor. Ausgerechnet die Fliegerei, die mich immer schon angezogen hatte wie das Licht den Nachtfalter, hielt die Hand hin.
Damals hatte ich ein Techtelmechtel mit einer jungen Frau, die bereits flog. Ich begleitete sie auf Reisen – Mauritius wurde zu einem meiner Lieblingsziele, nicht nur wegen des Wassers und der Farben, sondern weil ich dort begriff, dass „über den Wolken“ nicht nur geografisch gemeint ist. Ich sah von außen, wie sich ein fliegerischer Alltag anfühlt: das Team, die Rituale, der Rhythmus, die Mischung aus Präzision und Menschlichkeit. Und ich spürte, dass diese Welt Raum für mein neues Ich hatte.
Vom „Fußgänger“ zum Crewmitglied
In der Fliegerei nennen wir Menschen am Boden scherzhaft „Fußgänger“. Ich war lange einer – im Business, in der Stadt, im Takt der Kalender. Jetzt wechselte ich die Perspektive. Von jemandem, der alles kontrollieren wollte, wurde ich jemand, der loslässt und trägt, was wirklich zählt: Verantwortung, Teamgeist, Würde vor dem Leben.Der Übergang war kein Knopfdruck. Er war ein stilles Umladen: weg von der Frage „Wie wirke ich?“ hin zu „Wem diene ich?“ Weg von „Was besitze ich?“ hin zu „Was gebe ich weiter?“ Die Fliegerei wurde nicht zur Flucht, sondern zur Heimkehr. In eine Haltung. In eine Sprache, die ich schon immer verstanden hatte, aber nie wirklich gesprochen.
Willkommen an Bord
Heute, wenn ich die Kabinentür schließe oder durch die Gangway gehe, weiß ich: Jeder Flug ist ein Versprechen. An mich selbst, an die Menschen, die mir begegnen, an die, die ich verloren habe. Ich kann den Mittwoch nicht ungeschehen machen. Aber ich kann ihm Bedeutung geben, indem ich jeden neuen Tag bewusster lebe.
Dies ist die Vorgeschichte – das Kapitel, in dem das Alte bricht, damit Neues beginnen kann. Der Rest ist noch nicht geschrieben. Aber ich kenne die Richtung. Sie führt nach oben – nicht, um zu entkommen, sondern um den Blick zu weiten.

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