Kapitel 4.4 - Crewlife - Dienstpläne


Es ist seltsam, wie schnell sich der Alltag in der Fliegerei verändert. Eben noch ist man in den Einweisungsflügen unterwegs, warm eingepackt in einen Kokon aus Unterstützung, Training und Wohlwollen – und plötzlich liegen sie vor einem: die ersten echten Dienstpläne. Ein paar Zeilen auf Papier, die auf einmal bestimmen, wann du schläfst, wann du isst, wann du lebst. Und es ist der Moment, in dem man zum ersten Mal begreift, dass Fliegen kein Traum ist, sondern ein Takt. Ein Rhythmus. Eine Lebensform.

Damals, kurz nach meinem „roten Teppichlauf“ auf den Kanaren, waren die Pläne noch human. Vier Touren im Monat, manchmal weniger. Meistens Tagestouren oder kurze Mittelstrecke. Klingt überschaubar, fast harmlos – aber jeder, der schon einmal in Uniform im Gang stand, weiß: Eine Tagestour ist kein Spaziergang.

Tagestouren: Der kurze Sprint durch das Crew-Life

Tagestouren bedeuten: abheben und heimkommen, alles innerhalb eines Tages. Flüge wie Frankfurt – Palma – Frankfurt – Alicante – zurück. Auf dem Papier sind das ein paar Zeilen. In der Realität fühlt sich so ein Tag an, als hätte man drei Leben hintereinander gelebt.

Man verlässt die Homebase, steigt morgens in dieses fliegende Büro ein und kommt am Abend zurück – ein bisschen erschöpft, ein bisschen älter, aber auch ein bisschen reicher an Geschichten, die man kaum jemandem erzählen kann außer denen, die diesen Geruch kennen, diesen Klang, dieses Gefühl, wenn sich die Tür in der Früh zum ersten Mal öffnet. Dieses ganz eigene Kabinen-Aroma aus kalter Luft, Restgerüchen der letzten Rotation, trockenen Filtern, vergessenen Socken und einer sehr besonderen Stille, die nur ein Flugzeug haben kann, wenn es zu lange allein war.

Nach so einer Tagestour fühlt man sich oft wie ein gut benutzter Boxsack. Von außen lächelt man, macht Witze, serviert Kaffee, verkauft Duty Free. Innen weiß der Körper genau, was da passiert ist. Er merkt sich jedes Rauf und Runter, jede Verzögerung, jede Minute zu wenig Schlaf. Am Ende des Tages spürt man jeden einzelnen Meter über den Wolken.

Mehrtagestouren: Fünf Tage, ein anderes Leben

Und dann gab es die Mehrtagestouren. Fünf Tage am Stück – mein persönlicher Dauerbrenner. Irgendwann wurde ich nach Leipzig stationiert. Fünf Tage lang Hotel, fünf Tage lang derselbe Weg: Wecker um 01:00 Uhr, Briefing, Fahrt zum Flughafen, um 03:00 Uhr im Flugzeug stehen. Ein Hotelzimmer als künstliches Zuhause, zeitlos, ein bisschen wie ein Zwischenraum zwischen zwei Leben.

Von dort flogen wir alles, was Kanaren und Balearen hieß. Und weil es kein Nachtflugverbot gab, starteten die meisten Flüge gerne irgendwann zwischen zwei und drei Uhr in der Früh. Und 3 Uhr ist keine Uhrzeit. 3 Uhr ist ein Zustand.

Um diese Uhrzeit sitzen Eltern mit übermüdeten Kindern im Flugzeug, Babywagen, Kuscheltiere, Augenringe bis zum Boden. Schlaflosigkeit mischt sich mit Ferienvorfreude, und dazwischen liegen Ohnmachtsanfälle, Schwindel, Tränen – das volle Programm eines Körpers, der eigentlich schlafen wollte. Ohnmacht und Übelkeit waren Alltag. Wöchentliche Routine. Dinge, die am Boden niemand sieht.

Was kaum einer weiß: Nach so einer Fünf-Tagestour kam nicht automatisch die große Erholung. Oft lag direkt die nächste Tour im System. Vielleicht diesmal mit Abflug 17:00 Uhr. Für den Biorhythmus war das der absolute Killer. Der Körper hatte gerade fünf Tage lang geglaubt, die Nacht sei Morgen, und plötzlich sollte er wieder so tun, als würde er tagsüber arbeiten. In dieser Zeit habe ich gelernt, mit offenen Augen zu schlafen. Nicht, weil das eine besondere Fähigkeit wäre, sondern weil Erschöpfung irgendwann ein Dauerzustand wird, in dem der Körper sich nimmt, was er kriegen kann.

LEJ – PMI

Es gab einen Flug in dieser Zeit, der bis heute in mir lebt. Leipzig – Palma. Abflug 03:00 Uhr, Wecker 01:00 Uhr. Hotellobby, Crewbus, Diplomaten- beziehungsweise Crew-Eingang am Flughafen. Dieses typische, stille Ritual des frühen Morgens, wenn die Welt noch schläft und die Kabine schon auf uns wartet wie ein altes Tier, das wieder geweckt werden will.

Und dann öffnet man die Flugzeugtür. Dieser Geruch. Wer ihn kennt, weiß genau, was ich meine: stinkende Socken, kalte Luft, Müll, trockene Filter, nächtliche Stille. Ein Aroma, das man nie vergisst. Der Geruch von Alltag über den Wolken.

Wir flogen mit der Boeing 757-300 – lang wie ein Bus, flexibel bei Turbulenzen. Ein Flugzeug, das gern mal vorne schon auf der Landebahn war, während hinten noch alle in der Luft schwebten. Ich arbeitete bei diesem Flug im hinteren Teil der Kabine, machte meine Checks, die Gäste kamen an Bord: Familien, Kinder, Schlaflosigkeit. Ein chaotisches Mosaik, das in der Fliegerei völlig normal ist – und in meinen Augen bis heute nichts mit der Hochglanzversion von Sicherheit zu tun hat, die man gern nach außen verkauft. Die Crew sitzt da manchmal mit offenen Augen und schläft. Ich habe in der Kabine gelernt, im Stehen kurz „wegzukippen“, ohne dass es jemand merkt.

Schreiende Kinder. Eine Frau, die in Ohnmacht fiel. Mütter, die ihre Übelkeit kaum noch kontrollieren konnten. Und man selbst mittendrin, immer lächelnd, immer funktionierend. Als Crewmitglied gibt es keine Tür, die man hinter sich schließen kann. Keine Pause im klassischen Sinne. Nur diesen Laufsteg, auf dem man nonstop sichtbar ist.

Der Anflug, der sich in meine Zellen geschrieben hat

Wir waren im Anflug auf Palma. Die normale Ansage aus dem Cockpit kam: „Cabin Crew, prepare for landing.“ Das typische Ding-Dong. Der kleine Moment, in dem man innerlich einatmet, die Kabine noch einmal prüft und sich gedanklich schon halb in der Landung sieht.

Dann kam der Dreifach-Gong. Die Art Gong, die jeder Crew sofort in die Knochen fährt und eine Alarmsituation ankündigt, ohne dass ein einziges weiteres Wort gesagt werden muss. Gewitter über Palma. Unsicher, ob wir landen können. Eventuell diverten, das heißt: auf einen Alternativflughafen ausweichen.

Der Kapitän entschied: Wir probieren es.

Ich schaute auf meinen Bereich. Vor mir ein Mann – muskulös, wie ein kleiner Schwarzenegger. Daneben eine Frau mit Kindern. Alle Augen auf mich. In solchen Momenten wird Crew automatisch zum Symbol. Wenn wir ruhig aussehen, beruhigt es Menschen. Wenn wir Angst zeigen würden, wäre die Panik vorprogrammiert.

Die ersten typischen thermischen Winde setzten ein. Das Flugzeug schaukelte, wackelte, arbeitete gegen die Luft. Mein Gegenüber, der Bodybuilder, bekam eine solche Panik, dass er begann zu schreien: „Wir werden alle sterben! Wir werden alle sterben!“ Er lachte und weinte gleichzeitig, ein erwachsener, athletischer Mensch, der völlig in sich zusammenbrach. Es war schwer mit anzusehen, wie die Angst jeden Muskel übernimmt.

Ich beruhigte ihn, so gut ich konnte. Aber es sollte noch schlimmer kommen.

Der Blitz und der Go-Around

Kurz vor dem Aufsetzen – Fahrwerk draußen, alles normal, die Geräusche vertraut – schlug ein Blitz in die Landebahn ein. Direkt vor uns, wie wir erst im Nachhinein erfuhren. In der Kabine war es in diesem Moment totenstill man hätte eine Stecknadel auf den Boden fallen hören können. Und dann wurde der Go-Around eingeleitet. Ein Notdurchstart.

Zum ersten Mal in meinem Leben erlebte ich dieses plötzliche Aufbäumen eines Flugzeugs am eigenen Körper. Die Turbinen, die vorher im Reiseflug irgendwo bei rund normale Leistung liefen, wurden auf Vollgas geschoben. Man hört und fühlt das gleichzeitig. Es ist ein Heulen und Kreischen, etwas zwischen Kinderschreien, dem aufgerissenen Laut eines Rehs in der Nacht und einem metallischen Aufschrei – nur ohrenbetäubend laut. Ein Geräusch, das sich nicht nur ins Ohr, sondern direkt ins Nervensystem brennt.

Der Jet schoss nach oben, fast senkrecht. Die G-Kräfte drückten meinen Körper brutal in den Sitz. In dem Moment spürt man jede einzelne Faser und gleichzeitig nur eines: Wir müssen so schnell wie möglich weg von hier. Für mich war das kein Moment großer Panik, eher eine Mischung aus absolutem Adrenalin und einem tiefen Vertrauen in das Flugzeug. Aber mein Körper hat diesen Moment nie vergessen. Auch 25 Jahre später bekomme ich noch Gänsehaut, wenn ich darüber spreche.

Hinter mir sah es anders aus. 300 Passagiere – und gefühlt 299 davon begannen, sich zu übergeben. Stress, Angst, Müdigkeit, der Druck des Go-Arounds – alles entlud sich in einer Welle aus Übelkeit. Es war Chaos. Laut, menschlich, ehrlich. Ich nannte diesen Flug später den „Kotzbomber“. Ein Spitzname mit einem Schuss Humor, aber dahinter steckt ein Erlebnis, das man nicht einfach abschüttelt.

Es war Notfall. Es war Ausnahmezustand. Es war mein erster echter Flug ohne zusätzliche Betreuung. Und es war der Moment, in dem ich begriff, was es wirklich heißt, Crew zu sein: da zu sein, wenn andere emotional komplett den Boden unter den Füßen verlieren – während man selbst seit Tagen keinen richtigen mehr hatte.


Der Kapitän brachte uns im zweiten Versuch sicher auf den Boden. Wir kümmerten uns um die Passagiere, um die Kabine, um alles, was blieb. Wir sammelten Tüten ein, halfen beim Durchatmen, gaben Wasser, beruhigten, erklärten. Und irgendwann, spät, erschöpft, aber dankbar, standen wir wieder draußen auf dem Vorfeld, unter diesem mallorquinischen Himmel.

Das war mein erster Flug nach Mallorca. Unvergesslich. Nicht, weil er spektakulär war wie in einem Film, sondern weil er so echt war. So roh. So nah an dem, was Fliegerei im Alltag wirklich bedeutet.

Vielen Dank, dass ihr wieder mit mir geflogen seid. Der Rückflug wartet schon.

       

             Willkommen an Bord.


Kommentare