Kapitel 7.4 – Der Start. Der erste Aufbruch. Die Überwindung.
Es war dieser schmale Grat zwischen Ende und Neubeginn.
Die Tage nach der Beerdigung waren still – zu still.
Mein Vater war gebrochen, und ich versuchte, irgendwie alles zusammenzuhalten, obwohl ich selbst kaum noch stand.
Ich funktionierte, Tag für Tag, ohne zu wissen, wohin das alles führen würde.
Das Haus, in dem sonst Leben war, fühlte sich leer an.
In dieser Leere wird jedes Geräusch lauter – das Ticken der Uhr, das Knarren der Wände, das eigene Atmen. Und je stiller es um dich wird, desto lauter wird der Kopf.
Jeder Gedanke dreht sich im Kreis, bis du irgendwann nicht mehr weißt, ob du noch lebst oder nur noch funktionierst.
Alles, was mir früher Struktur, Sicherheit oder wenigstens Richtung gegeben hatte – war plötzlich verschwunden.
Da war nur noch Leere. Ein Alltag ohne Sinn.
Ein Leben, das irgendwie weiterging, aber in mir längst stillstand.
Ich war seit längerem nicht mehr geflogen.
Nicht mehr Teil der Crew, nicht mehr Teil des Himmels.
Die Uniform hing seit Monaten im Schrank, das Namensschild lag auf dem Tisch.
Ich hatte meine Flügel abgegeben – wohl endgültig?
Und ich wusste nicht, ob ich jemals wieder abheben würde.
Was früher mein Zuhause war – Flughäfen, Crewräume, das Surren von Triebwerken war plötzlich eine ferne Welt, zu der ich keinen Zugang mehr hatte.
Ich war langzeitkrank, ausgebrannt, erschöpft, körperlich und seelisch.
Auch meine Nebentätigkeit in der Finanzberatung konnte ich nicht mehr halten.
Alles, was einmal „mein Leben“ war, fiel Stück für Stück weg.
Irgendwann, als die Medikamente langsam zu wirken begannen, kam dieser Gedanke – leise, aber hartnäckig:
Raus. Nur kurz. Zwei Wochen vielleicht.
Ein bisschen Luft, bevor ich ganz ersticke.
Ich hatte immer diesen Traum, einmal an die Côte d’Azur zu fahren.
Saint-Tropez, Louis de Funès – dieser verrückte Gendarm, der mich schon als Kind zum Lachen brachte.
Vielleicht war es genau das, was ich suchte: ein Stück Leichtigkeit, das sich irgendwo in meinem Leben verloren hatte.
Ich bin kein Mensch für Herbst und Nebel.
Ich brauche Sonne, Wärme, Meer.
Ich wollte dorthin, wo alles heller ist als die Gedanken im Kopf.
Und so entstand der Plan.
Oder besser gesagt: der Versuch eines Plans.
Aber loszufahren bedeutete nicht, frei zu sein.
Loszufahren bedeutete, alles hinter mir zu lassen – meine Familie, meinen Vater, meine Kinder.
Menschen, die mich liebten und gleichzeitig festhielten, weil sie Angst hatten, ich würde nicht zurückkommen.
Und ich hatte dieselbe Angst.
Ich wusste ja selbst nicht, ob ich zurückkomme – weder körperlich noch seelisch.
Es war ein stiller Abschied. Kein großes Tschüss, kein Drama.
Nur ein letzter Blick zurück – und ein Motor, der ansprang.
Herbie, mein Bulli, schnurrte leise, als würde er flüstern:
„Na komm. Ich pass schon auf dich auf.“
Der Schwarzwald – und die erste Nacht allein
Mein erstes Ziel: der Schwarzwald.
Dort hatte ich über eBay-Kleinanzeigen Zubehör gekauft – nichts Großes, ein paar Kabel, etwas Technik.
Aber in Wahrheit ging’s gar nicht darum.
Ich wollte einfach losfahren. Bewegen. Atmen. Leben.
Die erste Nacht war seltsam.
Ich stand auf einem Wanderparkplatz, irgendwo am Waldrand.
Mir war klar, dass Wildcampen in Deutschland verboten ist – also tat ich:
nichts. Kein Tisch, kein Stuhl, kein Licht.
Ich saß da, im Dunkeln, hörte den Wind, das Rascheln der Äste, mein Herz.
Und irgendwann schlief ich ein.
Nicht klopfte – schlug.
Mit der flachen Hand aufs Blech, laut, aggressiv, immer wieder.
Ein Mann draußen, der schrie, ich würde hier „illegal campen“, er rufe die Polizei, ich solle sofort verschwinden.
Er stellte sich als Schwarzwald Sheriff dar, war aber keiner – nur einer dieser selbsternannten Ordnungshüter, die glauben, sie müssten anderen das Leben erklären.
Ich öffnete vorsichtig die Tür, zitternd, verschlafen, versuchte ruhig zu bleiben.
Aber jedes Wort von ihm schnitt tiefer.
Ich erklärte, dass ich nur stand, dass ich niemanden störe.
Doch Beschwichtigung war zwecklos.
Er wurde lauter, wütender – und ich bekam Panik.
Herzrasen, Schwindel, diese vertraute Enge in der Brust.
Ich wollte nur weg.
Also fuhr ich los.
Ohne Frühstück.
Ohne Plan.
Nur weg.
Frankreich, Baguette, Camembert – ein Moment Ruhe
Hinter der Grenze Frankreichs hörte ich endlich auf zu zittern.
Ich fand ein kleines Café, bestellte ein Baguette mit Camembert, Tomaten und einen starken Kaffee.
Und in diesem Moment – zwischen Geräuschen, Gerüchen, Sonne und fremden Stimmen – war plötzlich Ruhe.
Zum ersten Mal seit Monaten.
Für einen Augenblick war alles gut.
Grenoble – Schnee, Tankstellen und erste Hoffnung
Mein nächstes Ziel: Grenoble.
Schnee, Regen, enge Straßen, Umwege.
Ich suchte stundenlang nach einem Platz zum Schlafen, fand keinen, der sich richtig anfühlte. Am Ende stand ich auf einem Parkplatz zwischen einer Tankstelle und einem Supermarkt.
Nicht schön. Nicht romantisch. Aber ehrlich.
Und vielleicht genau deshalb: perfekt.
Am nächsten Morgen ging ich in genau in diesen Supermarkt.
Frisches Obst, Gemüse, Croissants, Kaffee.
Gerüche, Farben, Stimmen – Leben.
Ich blieb erstmal dort.
Das war meine zweite Nacht im Bus.
Zwischen Alpen,
Schnee,
Tankstelle und Supermarkt.
Nicht wie in den Hochglanzbroschüren. Aber echt.
Herbie und ich – wir waren unterwegs.
Das war der Anfang. Der erste Abschnitt einer langen Reise, die noch viele Höhen und Tiefen bringen wird. Und wenn du magst – begleite mich auf dem nächsten Teil.
Ich freue mich, wenn du wieder dabei bist.
Willkommen an Bord.



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